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Debut

Roman

 

I

Schon seit über einem Jahr waren wir völlig im Freiflug. Wir spannen uns einen aus, bis uns der Quatsch aus den Ohren hervorlugte. Dann kam der Anruf. In Riesa sei ein ROBUR-Bus aufgetaucht, der sehnsüchtig einem lieben Käufer entgegenschmachte. Wir gaben dem ostdeutschen Schergen zwei Mille und zischten ab.

Peter drehte am Radio. Jeden Moment erwartete man die karge Stimme des Rundfunks der DDR. Aus dem Knacken und Rauschen schälte sich schließlich eine menschliche Stimme: „...eigenbrödlerischer deutschsprachiger Philosoph und Sprachforscher. Sein einziges, zumindest sein bekanntestes Werk trägt den Titel Tractatus logico-philosophicus, und erschien in der ersten Hälfte des 20. Jhdts.“ - „Hey, Wittgenstein. Sir Ludwig The King.“
- „Dieses Buch ist streng nach Paragraphen und Artikeln durchnumeriert und fängt an mit dem Satz: ‚Die Welt ist alles, was der Fall ist.‘ Ebenfalls von W. stammt der Satz: ”Worüber man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.”
Peter sagte mit der lustigen Intonation, die entsteht, wenn die Zunge nicht vom Gaumen entfernt wird: „Gegen Ende seines Lebens zog W. sich ganz aus der Welt zurück“, die Radiostimme fuhr fort „und wohnte in einer einfachen Hütte an einem Fjord in Norwegen. Dort dachte er nur noch nach und vergaß darüber sogar, sein Geschirr abzuspülen, sodaß die angebackenen Speisereste, v. a. Hafergrütze, die zur Verfügung stehende Kochfläche in seinem einzigen Topf stetig schrumpfen ließen. So wäre es nachvollziehbar, wenn er an fortschreitender Selbstvernachlässigung verstorben wäre.“ Ich sagte: „Alt ist er auf jeden Fall nicht geworden.“
Während der Bus über die vergessenen Reste einer DDR-Betonplattenstraße rumpelte, sausten mir die Sinnfetzen wie Splittergranaten durch das Oberstübchen. Wittgenstein. Die Suche nach den Wörtern. In Richtung für zum Ende seiner Lebenüberspannung wurde er vollständig durch die genommene Welt. Dort dachte es nur und vergaß, indem es heraus sein Tongebrauchsgut sogar zu löschen, damit diese die Angebackereste sperren, die verlassen, Oberfläche des Kochs in seinem der Topf ständig für den Anweisung nur Vertrag ist.


Darf ich mich vorstellen? Raymond, Raymond Curtis. NADA, Berlin. Wir waren mit unserem ROBUR unterwegs, um die anderen abzuholen. Unser Ziel: Der Berliner Ring. Wir hatten bekanntgegeben, 5 Tage nonstop um Berlin zu kreisen. Alle 3 Stunden würden wir an der Raststätte Michendorf vorbeikommen, um unsere Freunde aufzunehmen und Interviews zu geben. Nach Ablauf der 120 Stunden würden wir eine Münze werfen, um uns auf eine Himmelsrichtung zu einigen. Der NADA-Bus auf seinem Weg. Der Diesel schnurrte wie eine asthmatische Katze, und eigentlich könnte dieser Roman an dieser Stelle schon zu Ende sein, hätte ich mir vorstellen können, die anderen davon zu überzeugen, auf mich zu verzichten. Raymond Curtis: Debut. 2 Seiten Reflektionen über Wittgenstein. 257 Seiten Raum für Notizen. Haffmanns 29,80. Aber wir hatten uns viel vorgenommen und ich wollte nicht unbedingt in literarischen Quartetten verschimmeln. Nicht zuletzt hatten wir Hotman6Man98 Bescheid gegeben, der elektrotechnisch-sexuellen Brieffreundschaft von Sportbiber, dessen unbändigen Sexualtrieb wir während der Fahrt mit zwischen die Sitze geklemmten Leberlappen zu befriedigen trachteten.


Die Tachometeranzeige ging nur selten über 80 hinaus. Der ROBUR war ein Vorführmodell der DDR-Kraftfahrzeugindustrie mit verblüffender Leistungsdrosslung bzw. –hemmung ab Werk. Es war unklar, warum der Tachometer die Zahl 120 aufwies. Früher hatten ich und die anderen Jungens der Nachbarschaft uns immer gegenseitig ausgestochen im Wettbewerb, immer höhere Tachoanzeigen bei geparkten Autos gesehen zu haben. Einmal erinnere ich mich an die Aufregung, durch die Seitenscheibe eines BMW oder Porsche vermutlich, 240 erspäht zu haben, ganz eng über der 220, weil so viele Zahlen auf die 270 Grad der Tachoscheibe passen mußten. Ich bin mir sicher. Ich habe es gesehen. Bei diesem fliegenden Traktor hingegen schienen die 120 schon Drehzahlbereich Rot und dampfende Töpfe zu bedeuten. Eine gewisse Scham fuhr mit, das Gaspedal ins Blech zu drücken, vielleicht ein bißchen wie einem Menschen, der schon am Boden liegt, einem Vietcong vielleicht, den Kopf mit sanftem Druck des Stiefels in den Schlamm zu schieben. Das hatte der ROBUR nicht verdient und erst recht nicht seine Konstrukteure, die sorgsam ein Auto bauten, das fuhr.


Seit dreizehn Jahren habe ich eine majestätische Kladde, die ich in einem Abfallbehälter in Edinburgh gefunden habe. Dunkelblau, gold eingeprägt der Schriftzug: The Observer. Ich hatte immer diesen Traum gehabt: Eine Runde Weiser kommt alle fünf Jahre zusammen. Ich habe den Auftrag, Ihnen zu berichten, von der Welt. Und nun der Bus, der rollende Prozessor. Wir könnten den Club der toten Dichter als Pantomime in Venedig aufführen, wir könnten auf Kafkas Spuren durchs Goldene Prag. Wir wußten nicht, ob alle kommen würden, um zuzusteigen – nein: wir wußten, daß sie nicht kommen würden. Denn schon seit Monaten war es, als seien wir mental leprös. Wir hatten Witze an David Flash geschickt, den Witzpförtner von Harald Schmidt, gute Witze. Wir hatten einer Unternehmensberatung das Konzept eines Trainingsseminars für Manager in gehobener Position zukommen lassen. Wir hatten Schlingensief einen Christoph-Schlingensief-Lookalike-Wettbewerb vorgeschlagen, der Caritas einen Telefonsex-Werbespot angeboten, versucht, mit Thomas Kapielski Kontakt aufzunehmen. Jetzt war Dezember, die Luft war solide wie ein tiefer Atemzug über einer geöffneten Gefriertruhe, gefüllt mit kompakten Himbeerpaketen und Gulaschsuppe in ehemaligen Joghurtbehältern. Das Vibrieren des Lenkrads fühlte sich gut an. „Können Sie über, was, bemannen muß ist leise "Das Kalbnetzleben in Richtung zum Ende des W.-ganzausderweltzurueck.“ – mit 80 Sachen donnerten wir voran. Das Radio knackte, Wittgenstein war tot.


Die Landschaft wechselte kaum, es war auch das Ende des Jahres. Die Farben hielten den Atem an. Blasse Felder hinter den dunklen Bäumen der Alleen, Warsteiner-Schilder, die auf die Existenz von Landgasthöfen verwiesen, in denen man an-geschaut wird, wenn man den Raum betritt, in denen man Tassen Kaffee trinken kann, mit Milchportionen in kleinen Plastikbecherlein mit Aluzupfdeckel und so wei-ter. Kleine bauchige Väslein auf den Tischen.
Peter wachte aus dem Schlummerauf, dem er kurzeitig anheimgefallen war, als zufällig die Radiostimme knarrte: „...trauriger tschechischer Bürokaufmann, Chronist der finsteren Tage im Goldenen Prag. Er schrieb seltsame Traumsequenzen und Abrechnungen, v. a. mit seinem Vater, auf und dies vor allem nachts. Er fand die Welt so schlecht und sich selbst so schuldbeladen, daß er seinem Freund, dem Verleger Max Brod einmal sagte, er solle seine Werke, denen er düstere Titel wie Der Prozeß, Die Verwandlung und Das Schloß gab, nach seinem wahrscheinlichen frühen Ende vernichten und keinesfalls daran denken, die bis dahin unveröffentlichten Texte eventuell anderen zu zeigen, was dieser aber doch tat. Das dabei entstandene Modewort ”kafkaesk” kann am ehesten als Gegenteil von sinnvoll-heiter verstanden werden.“
Mir fiel ein, daß dies eine der Radiosendungen über unser Buchprojekt Leben auf der intellektuellen Überholspur sein könnte. Peter und ich hatten gerade ein Buch geschrieben, eine Enzyklopädie, in der wir unser gesamtes Wissen zu den 300 mächtigsten und bedeutendsten Personen der Menschheitsgeschichte preisgegeben hatten, incl. Mao, Mae und Marx. Gerade arbeiteten wir an einem neuartigen Vertriebssystem, weil wir mindestens 10.000 Exemplare des Buchs verkaufen mußten, um eine Wette mit Dr. phil. Oliver Thomas Domzalski vom Eichborn Verlag zu gewinnen. Um eine Kiste Sekt. Und kein Ramsch. Wir waren zu diesem Buchprojekt schon mehrmals interviewt worden. Vielleicht war das nun eine der Ausstrahlungen. Tatsächlich brachte der jung-pfiffige Moderator wieder das Gefasel mit „Jungakademiker-Streich“. Würde denn nie einer begreifen?
Kafka starb nicht an Selbstmord, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern an fortgeschrittenem Asthma, einem irreparablen Herzfehler oder einer Lungenembolie. Er war lange Zeit verlobt mit einem Fräulein namens Milena, mit dem er sich Briefe schrieb, das er aber nicht mit aufs Zimmer nehmen durfte, was ihm nicht besonders gefiel, was er aber durchaus tolerieren konnte, weil er so seiner trüben Stimmung besser nachhängen konnte.
„Hast du das geschrieben oder ich?“, fragte Peter und streckte sich wie ein Kamel gähnt. Wir einigten uns darauf, daß ich diesen Artikel geschrieben hatte. Das mit Milena war aber auf jeden Fall von ihm.


Peter verspürte Lust auf einen Sargnagel.
„Wo ist der Tabak?“
„Jacke aussen rechts.“
Er fischte den Tabak, der bei Raumkontakt sofort anfing, dumpf-würzig zu duften, aus meiner Jackentasche.
„Und was wollen die?“
Ein grünweisser Merser fuhr langsam vor uns her, zu langsam, als daß er mit seiner „Bitte folgen!“-Aufforderung in roten Leuchtdioden versehentlich abgezogen und am Horizont verschwunden wäre.
„Hast du die Papiere?“
„Hoffentlich hat Bruder Ostig uns nicht geleimt.“
Er zündete sich noch seine Zigarette an, als schon ein Wachtmeister, ganz Mütze, uns von unten grüßte.
„Hallo, Herr Wachtmeister.“
Das Radio plärrte: „Weil einige Angehörige der Verlierer des Krieges, der sog. Nazis, es nicht mehr rechtzeitig geschafft hatten, sich selbst umzubringen oder in Argentinien oder Paraguay unterzutauchen, beschlossen die Amerikaner, wenigstens die zu verhaften, die sie noch fangen konnten, und die Nürnberger Prozesse zu veranstalten. In einem großen, holzvertäfelten Gebäude wurden diese ehemaligen hochrangigen Politiker und Generäle des Dritten Reichs, auf einer Balustrade in Zivil hockend, auf ihre Verwicklung mit den Nazis angesprochen, während ringsum behelmte US-Soldaten den Saal bewachten und für die nötige Stimmung sorgten. Einige der Befragten blieben verstockt, andere hatten eine Ausrede.“
Wir mußten zwar aussteigen, aber uns immerhin nicht breitbeinig, mit vorgehaltener Dienstwaffe abtasten lassen. Der Hüter von Recht und Ordnung wollte nur mal Hallo sagen, mit „Führerschein bitte, und Kraftfahrzeugpapiere.“ Bekam er gezeigt. Ich werde nie verstehen, warum es sich noch nicht bei der Polizei herumgesprochen hat, daß es sowohl sämtliche Angehörige der RAF, als auch jeder noch so kleine Koks-Dealer nicht unter einem schwarzem BMW machen. Obwohl: waren nicht vor einiger Zeit bei einer Razzia in der Hamburger Hafenstraße etliche Personen aus dem linksradikalen Kreis verhaftet worden, denen leider kein besseres Versteck eingefallen war?
„In Ordnung. Wo wollen Sie heute noch hin?“
„Berliner Ring.“
„Aha. Dann gute Fahrt.“
Während wir wieder anrollten und ich gangweise im Kraftfahrzeuggetriebe wühlte, pfiff ich leise im Kopf „Auferstanden aus Ruinen.“

 
Fortsetzung folgt